Barcelona – Ein Tag und seine Folgen Startseite
Von Sabine Bétoulaud
Über
Hanns-Erich Kaminski gibt es zwar nur bruchstückhafte
biographische Angaben; doch das, was wir über ihn wissen, sowie
seine politischen Schriften zeichnen sich aus durch eine
Kontinuität des Kampfes gegen Faschismus und Krieg und für den
Sozialismus. Es scheint mir deswegen interessant, dieses Buch
– Barcelona: Ein Tag und seine Folgen – in den
Zusammenhang zu stellen, der auch derjenige des Verfassers war:
der Kampf gegen den Faschismus im Europa der Zwischenkriegszeit.
Hanns-Erich Kaminski wurde am 29. November 1899 in Labiau
(Ostpreußen) geboren; er stammte aus einer jüdischen Familie.
Seine Eltern, Rosa und Max Kaminski, waren als Kaufleute tätig.
Er besuchte das Gymnasium in Königsberg und machte am 9. Oktober
1917 das Abitur. Zu dieser Zeit war er auch Angehöriger der
Luftwaffe, wurde aber nicht an der Front eingesetzt. Nach dem
Krieg studierte er Volkswirtschaft, Sozialwissenschaft,
Philosophie und Literatur an den Universitäten Königsberg,
Freiburg, Berlin und Frankfurt. Im Mai 1921 immatrikulierte er
sich an der Universität Heidelberg; dort promovierte er im
Februar 1922 mit seiner Arbeit „Zur Theorie des
Dumping“.
In diesen Jahren war er bereits journalistisch tätig. Kaminski
sprach fließend Französisch, außerdem Italienisch und
Spanisch. In den Jahren 1922 bis 1926 bereiste er Italien,
Spanien, Spanisch-Marokko und hielt sich in Paris auf, wo er mit
Kurt Tucholsky eine Korrespondenz veröffentlichte.
1925 erschien sein erstes Buch – Fascismus in Italien.
Grundlagen, Aufstieg, Niedergang – im Verlag für
Sozialwissenschaft, Berlin. In der Einleitung schrieb Kaminski:
„Ich habe den entscheidenden Ereignissen während der beiden
verflossenen Jahre beigewohnt, meine Urteile sind daher sämtlich
aus persönlicher Anschauung entsprossen.“ Zur Frage der
Objektivität seines politischen Zeugnisses bemerkte er:
„Ich glaube für mich in Anspruch nehmen zu dürfen, daß
ich ohne Voreingenommenheit und ohne Einseitigkeit die Tatsachen
geschildert habe und daß meine Objektivität auch nicht vor den
mir nahestehenden Parteien Halt gemacht hat. Freilich lege ich
keinen Wert auf das Prädikat: sine ira et studio, das mir
gegenüber einer Gegenwartskritik nur als ein Lob auf Feigheit
und Heuchelei erscheint. Wie könnte ich auch! Mein Herz schlägt
für alle die Werte, die der Fascismus in den Staub tritt, all
meine Gefühle sind bei den Ermordeten, den Mißhandelten, den
Eingekerkerten, den Beleidigten, bei den Opfern des Terrors, die
kämpfen und leiden für die erhabenen Ideale der Freiheit,
Gerechtigkeit und Wohlfahrt ...“
Die politischen Schriften Kaminskis sind zum einen geprägt von
einer Rationalität, die ihn dazu brachte, auch die ihm
nahestehenden Parteien zu kritisieren, und andererseits von einer
Affektivität, welche seine gesellschaftspolitischen Ideale immer
wieder aufs neue belebte: Aus Liebe zu diesen Idealen und aus
Liebe zum Frieden müsse man den Faschismus bekämpfen, welcher
„überhaupt keine Idee (ist), sondern eine Methode“ und
„nichts anderes als der wiedererstandene
Bonapartismus“, der die härteste Diktatur, den Krieg, mit
sich bringt (Fascismus, S. 93 ff.).
1926 wurde ihm ein amerikanischer Friedenspreis, der
„Filehne-Preis“, verliehen. Kaminski war damals
Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung Die Volksstimme (Frankfurt
a.M.). Von 1928 bis 1933 lebte er dann in Berlin und schrieb für
zahlreiche Blätter: Berliner Tageblatt, Volkszeitung,
Vossische Zeitung, Die Dame, Berliner
Illustrierte Zeitung, BZ am Mittag, 8-Uhr-Abendblatt,
Welt am Montag und vor allem für die Weltbühne. Schon
zur Zeit Siegfried Jacobsohns, 1921, hatte er angefangen, für
die Weltbühne zu schreiben, deren Herausgeber während Kaminskis
Zeit in Berlin Carl von Ossietzky war. Als dieser 1932 wegen
„Hochverrats“ verhaftet wurde, redigierten Kaminski, K.
L. Gerstorff (Pseudonym des SAP-Politikers Fritz Sternberg) und
Hellmut von Gerlach die Leitartikel. Wegen der Mannigfaltigkeit
der Beiträge ließ sich – so Tucholsky – von einem
„Geist der Weltbühne“ sprechen, der sich „durch
Unabhängigkeit des Urteils, durch Sinn für Humor, durch Freude
an der Sauberkeit und durch einen Glauben an die Sache“
auszeichnete (Weltbühne, 9.9.1930).
Solchen Anforderungen genügten die Arbeiterparteien der Weimarer
Zeit jedoch nicht. Die Weltbühne-Autoren kritisierten
bisweilen heftig deren Politik und die Parteibürokraten, von
welchen sie wiederum scharf angegriffen und als
„Weltbühne-Literaten“ abgetan wurden. Den Parteien und
manchen Lesern, die der Zeitschrift den Vorwurf machten, ihre
intellektuellen Analysen seien unproletarisch, erklärte Kaminski
die Stellung und die Rolle der Zeitschrift und damit auch seine
eigene: „Die Weltbühne ist kein Parteiorgan. (...) Wir sind
ein Kreis sehr verschieden gesinnter Mitarbeiter, die
untereinander und mit den Lesern nur durch einige grundlegende
Ideen verbunden sind. Wir alle stehen links, und vermutlich sind
wir alle einig in der Überzeugung, daß die Linke gereinigt und
erneuert werden muß, um wieder aktionsfähig zu werden. Dies
große Werk, das nur vollendet werden kann durch die Einigung der
Arbeiterklasse, können wir hier freilich nicht schaffen. Wir
können höchstens zu seinen Voraussetzungen beitragen, indem wir
uns bemühen, Situationen zu klären und Fehler
aufzuzeigen.“ (Weltbühne, 30.8.1932)
Dem von Feindschaft geprägten Verhältnis zwischen SPD und KPD
stellte Kaminski die Forderung nach der Einheitsfront der
Arbeiterklasse entgegen: Raus aus der Sackgasse der Spaltung,
bevor es zu spät ist! Allerdings verführte ihn dies auch dazu,
eine nationalsozialistische Regierung zu wünschen: die Nazis
wären dann gezwungen, ihre tatsächliche Feindschaft gegenüber
der Arbeiterklasse offenzulegen, in Zeiten einer noch
kampffähigen Arbeiterbewegung (Weltbühne, 23.9.1930).
Die Politik der beiden großen Arbeiterparteien wurde von
Kaminski sehr kritisch gesehen. Er mißbilligte die Taktik des
kleineren Übels: „Das Risiko ist unter allen Umständen
groß, aber um sich zu behaupten, muß man kämpfen, und wer
gegen die Fascisten kämpfen will, muß auch gegen die
fascistische Politik kämpfen, an die Brüning Deutschland
langsam gewöhnt.“ (Weltbühne, 24.2.1931) Die SPD
müsse bereit sein, der Reaktion überall entgegenzutreten, und
notfalls – sollte jene Gewalt anwenden – auch mit
Gewalt (Weltbühne, 31.5.1932). Auch die ultralinke
,Alles-oder-nichts-Politik’ der KPD wurde von Kaminski
abgelehnt: „Ob man seine Passivität staatspolitisch oder
revolutionär nennt, macht jedoch nur in Leitartikeln einen
Unterschied aus. In der politischen Praxis ist das Resultat genau
das Gleiche.“ (Weltbühne, 27.9.1932)
Doch angesichts des immer noch vorhandenen Masseneinflusses der
Arbeiterparteien lag die Lösung bei diesen Parteien. Sie hätten
die Notwendigkeit zu handeln einsehen müssen, und dies hätte zu
einer gemeinsamen Mobilisierung der Linkskräfte geführt. Immer
wieder stellte sich Kaminski die Frage nach den Motiven einer
solchen Mobilisierung: ,,(Der) vielleicht irrtümliche Glaube, es
lohne sich, die vielleicht sinnlose Zuversicht, durch das
dargebrachte Opfer werde alles besser werden“? Und schlägt
dann die „Sozialisierung“ vor als „die Parole,
unter der sich die marxistische Front, die bisher leider nur in
der Einbildung ihrer Gegner besteht, sammeln könnte“ (Weltbühne,
8.3.1932).
Gemeinsam mit zweiunddreißig anderen Linksintellektuellen
veröffentlichte er einen „Dringenden Appell“, in
welchem dazu aufgerufen wurde, „endlich einen Schritt zu tun
zum Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront (...), mindestens in
der Form von Listenverbindungen“; dieser Aufruf erschien am
24.6.1932 in der Zeitschrift Der Funke und in Form von
Plakatanschlägen. Die Frage: „Ist die deutsche Linke nur
ein imaginäres Gebilde, ein literarischer Begriff, eine
politische Konstruktion?“, beantwortete er mit: „Nein
und dreimal nein.“ (Weltbühne, 13.9.1932) Die Linke
müsse jedoch handeln, selbst wenn nur eine Teilaktion gelänge,
um der Arbeiterschaft die Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln.
Und eine solche Aktion würde möglicherweise auch anderen
Bevölkerungsschichten wieder Mut machen. In Deutschland müsse
eine Dynamik des Antifaschismus und des Sozialismus geschaffen
werden.
Noch Anfang Februar 1933 glaubte Kaminski an eine solche Reaktion
seitens der Linken, doch bereits zwei Wochen später schätzte er
„die neue Luft“ anders ein: So blickten jetzt
beispielsweise die Journalisten „mit Neid auf so gefahrlose
Berufe wie Seiltänzer oder Dachdecker“ (Weltbühne,
21.2.1933). Am 25. Februar, zwei Tage vor dem Reichstagsbrand,
verließ Kaminski Deutschland und ging nach Paris.
Im Exil sollte er weiter als Journalist tätig sein. Er schrieb
für Petit Niçois, Journal des Vivants, Mercure
de France und für die in Paris und Wien herausgegebene
Exilzeitschrift Das blaue Heft. Darüber hinaus beteiligte
er sich an Volksfrontbündnissen und war Mitglied des
Lutetia-Kreises (die Versammlung deutscher Antifaschisten unter
dem Vorsitz von Heinrich Mann; sie bekannte sich zur
parlamentarischen Demokratie). Dort kritisierte er u.a. die
Haltung der SOPADE (die Exil-Leitung der SPD) und vertrat eine
sogenannte „Tendenz Kaminski“, welche auf die
sozialistische Revolution zur Beseitigung des Nationalsozialismus
setzte.
Daraus entsprang sozusagen als Selbstverständlichkeit sein
Interesse für die spanische Revolution. Von September 1936 bis
Januar 1937 hielt er sich in Katalonien auf, und im Mai 1937
erschien sein Buch Ceux de Barcelone bei Denoël (Paris).
Dieses Buch schrieb er wie auch die beiden folgenden – Bakounine.
La Vie d’un Révolutionnaire (Aubier, Paris 1938); Céline
en Chemise brune. Le Mal du Présent (Nouvelles Editions
Excelsior, Paris 1938) – auf französisch.
Vergleicht man Barcelona und Bakounine mit seinem
ersten Buch Fascismus in Italien, läßt sich eine
deutliche Entwicklung in der Beurteilung des Anarchismus
feststellen. 1925 vertrat er noch die Ansicht: „Sie sind
Kinder, die, selbst wenn sie eine Märtyrerkrone tragen, noch
lange keine Erwachsenen werden.“ Die Beobachtung der
Revolution in Spanien ließ ihn jedoch sein Urteil revidieren
– in einem Artikel, erschienen in der anarchistischen
Zeitschrift Le Libertaire anläßlich der
Veröffentlichung seines Buches über Bakunin, bekannte er:
„Während der Monate, in welchen ich mit Rührung und
Enthusiasmus die Ereignisse der spanischen Revolution verfolgte,
wurde mir klar, daß diese ganze Revolution das Werk der
Anarchisten war. Ich teile nicht jeden Gedanken der Anarchisten,
und noch weniger stimme ich allem, was sie getan haben, zu. Aber
die Rolle, die sie übernahmen, ist für mich nach wie vor eine
höchst wichtige Offenbarung (...) Was mir besonders wichtig
schien, das war die anarchistische Mentalität.“ Letzteres
läßt sich zum Beispiel anhand der Art und Weise, wie er die
gesellschaftlichen Veränderungen oder die Rolle der Komitees und
Räte darstellt, nachvollziehen. Gerade angesichts seines eigenen
Eintretens gegen die Streitereien und Taktierereien der linken
Parteien in Deutschland vor 1933 mußte er von dieser gewissen
,Naivität’ des spanischen Anarchismus und
Anarchosyndikalismus beeindruckt sein.
Bei der Suche nach den Ursachen stieß er zwangsläufig auf
Bakunin und ging dem Gegensatz zwischen Anarchismus und Marxismus
nach, da er der Frage, „ob die zukünftige Gesellschaft
etatistisch oder föderalistisch, autoritär oder anarchistisch
sein soll“, große Bedeutung beimaß (Bakounine, S.
17). Dieser Gegensatz habe, so Kaminski, seine Ursache in den
unterschiedlichen Charakteren von Marx und Bakunin: „Bei
Marx steht die Theorie am Beginn der Aktion. Bei Bakunin kommt
die Aktion vor der Theorie. Infolgedessen denkt Marx induktiv und
Bakunin deduktiv. Marx ist umsichtig, Bakunin einfallsreich.
(...) Marx strebt nach Ordnung, Bakunin nach Harmonie. Das Genie
von Marx findet sich in seiner Enge, das von Bakunin in jener
Eigenschaft, die die Russen ,eine großzügige Natur’
nennen. Der eine stammt aus der Stadt, und die Fabrik ist für
ihn das Labor, wo die Zukunft vorbereitet wird. Der andere stammt
vom Land, und stets ist für ihn die Erde die große Schöpferin
jeglichen Reichtums.“ (Bakounine, S. 239)
Die Vorliebe Kaminskis für Bakunin ist offensichtlich. Marx
wirft er vor, dieser habe, „indem er diese Methoden des
Fraktionskampfes (gegen Bakunin gerichtete Verleumdungen, Anm.
S.B.) in die Internationale einbrachte, einen Präzedenzfall
geschaffen, welcher seither die Arbeiterbewegung schwer
belastet“. Und er fährt fort: „Manche seiner
Nachfolger werden die Gemeinheiten ihres Meisters nachahmen, ohne
sich mit dessen Genie entschuldigen zu können.“ (Bakounine,
S. 305) Kaminski billigte auch den Gedanken Bakunins, Marx habe
der deutschen Arbeiterbewegung einen reformistischen und keinen
revolutionären Charakter gegeben, indem er ihr den Weg einer
zuerst legalen Agitation, welcher dann eine revolutionäre
Bewegung folgen soll, gewiesen habe.
Dennoch übersah er nicht die dem Anarchismus innewohnenden
Widersprüche. So kritisierte er Bakunin, dieser habe „das
Zentralproblem einer jeden Revolution nicht gelöst, insbesondere
nicht erklärt, wie die Revolutionäre im Falle einer noch nicht
vollendeten Revolution und konfrontiert mit den Erfordernissen
des Bürgerkrieges sich der Ergreifung der politischen Macht
enthalten können. Dies ist die große Schwäche der
anarchistischen Theorie und die Aufgabe, die Bakunin seinen
geistigen Erben hinterlassen hat“ (Bakounine, S. 310)
Im Vertrauen auf den letztlichen Sieg des Sozialismus und
zweifelsohne vor dem Hintergrund der spanischen Erfahrungen
fügte Kaminski hinzu: „Notwendig ist jedoch eine Synthese.
Diese ist sogar unvermeidlich, und die Geschichte liebt die
Kompromisse: Nicht etwa, daß sie den Verhandlungsstil der
Parteien und die politischen Pakte, von welchen die Taktiker
träumen, ratifizieren würde; sie selbst schafft ihre eigenen
Kompromisse.“
Man mag, wenn man die drei Bücher liest, die Kaminski in
Frankreich geschrieben hat, den Eindruck einer gewissen
Ungenauigkeit gewinnen. Trotzdem ist die Authentizität dieser
Bücher unbestreitbar. Und betrachtet man sie im Kontext des
Kampfes gegen den Faschismus im Europa der dreißiger Jahre
– wie auch Kaminskis Erfahrungen in Deutschland –, dann
erhalten sie, womöglich gerade aufgrund dieser
,Ungenauigkeit’, eine weitere Dimension: In seinem Artikel
in Le Libertaire erklärte Kaminski seine Intentionen bei
der Niederschrift von Bakounine: Er wolle den Leser nicht
mit Daten oder Fußnoten belasten; denn in Wirklichkeit schreibe
er nicht für die Wissenschaft, sondern für die Arbeiter. Beim
Schreiben habe er das Bild eines Arbeiters vor Augen, der abends,
nach der Arbeit und gegen die Müdigkeit ankämpfend in dem
„Heldenleben“ Bakunins einen Weg, Widerstandskraft und
Hoffnung suchen werde. In Barcelona verleiht er
„denjenigen aus Barcelona“ eine ähnliche Rolle:
„Nach dem tragischen Niedergang der Russischen Revolution
steht sie (die Revolution in Katalonien, Anm. S.B.) im Zentrum
der Aufmerksamkeit einer ganzen Menschheit, die in ihr eine
Hoffnung und einen Anfang sieht.“ (Barcelona, S. 10).
Wie wir schon aus der Weltbühne wissen, sah Kaminski im
Kampf für den Sozialismus das einzig wirksame Mittel gegen den
Faschismus. 1938 schrieb er in Céline: „Der Kampf
gegen die Nazis, die mit politischer Verseuchung und Krieg
drohen, ist für Deutschland und für die ganze Welt notwendig.
Aber ich erkläre mit aller Kraft, daß keinerlei Grund,
keinerlei Vorwand den Krieg rechtfertigen ..., daß ich gegen den
Krieg bin, um jeden Preis dagegen bin: denn ein Tag nur des
nächsten Krieges wird ebensoviele Opfer kosten wie ein Jahr
faschistischen Terrors; denn nicht nur die Kämpfenden, das
heißt die Jugend aller Länder, sondern auch die Frauen, Kinder
und Alten werden von Tod, Hunger und Epidemien heimgesucht
werden; denn aus Verbrechen kann nur neues Verbrechen entstehen
und der totale Krieg wird nichts als totale Ruinen hinterlassen.
Ich verleugne die gefühlsmäßigen Gründe des Pazifismus nicht,
aber es gibt auch noch andere, realistischere und vielleicht
ausschlaggebendere. Ein Krieg, begonnen mit den besten Absichten,
muß ganz schnell zu einem imperialistischen Konflikt verkommen.
(...) Bald würde er nicht mehr ein Krieg zwischen Faschisten und
Demokraten sein, sondern zwischen Konkurrenten um Rohstoffe und
billige koloniale Arbeitskräfte. (...) Und wenn die Nazis
besiegt würden, was könnten wir anderen deutschen
Antifaschisten gewinnen? Im besten Fall dürften wir im
,Auslandsgepäckwagen’ in ein noch verärmteres Land
zurückkehren, das wahrscheinlich unter den Siegern aufgeteilt
sein würde. (...) Deutschland – nicht nur die deutschen
Juden – ganz Deutschland kann nur von den Deutschen selbst
befreit werden. Der Krieg vermag lediglich diese Einmütigkeit
realisieren, die Hitler nicht zu verwirklichen erreicht und die
sein bester Verbündeter sein würde. (...) Letztendlich ist der
Ausgang eines Krieges immer unvorhersehbar. (...) Aber es gibt
etwas, das die Nazis viel mehr fürchten als die Mobilmachung:
nämlich die deutsche Revolution und jedes ausländische
Beispiel, das ihr zum Ausbruch verhelfen könnte. (...) Jedes
Sozialgesetz in der Welt trifft sie, jeder Sieg der Arbeiter
beunruhigt sie, und vor den spanischen Proletariern zittern sie.
Mit diesen Aussagen stelle ich nur Tatsachen fest.“ (Céline,
Ausgabe 1977, S. 60 ff.)
Diese drei Bücher – Barcelona, Bakounine und Céline
– waren der Beitrag Kaminskis zum „Heldenlied der
Revolution“ (wie er das Leben Bakunins bezeichnete).
Kaminski wollte der Arbeiterklasse Heroen wie Bakunin,
Heldentaten wie diejenigen der katalanischen Arbeiter
nahebringen, geprägt von Größe, Einfachheit und Menschlichkeit
zugleich. Er wollte auf die Möglichkeit eines würdevollen und
freien politischen Kampfes hinweisen, Kraft zum Widerstand und
Hoffnung auf Befreiung geben, den Mut zur politischen Aktion, aus
welcher schließlich die dem Faschismus entgegentretende
revolutionäre Dynamik entspringen sollte. Dennoch übersah er
nicht die Schwächen der revolutionären Bewegung etwa in
Katalonien: „Dieses Buch ist aus Ereignissen hervorgegangen,
die noch ganz in der Entwicklung sind. Ich wage zu hoffen, daß
es nicht der Nachruf auf einen wunderbaren und bewegenden Versuch
sein wird, sondern daß es nur den Beginn eines großen
Aufschwungs beschreibt.“ (Barcelona, S. 201) Und
trotzdem: Eine der Eigenschaften des ,Heldenlieds der
Revolution’ ist, daß seine Hauptfiguren so tief überzeugt
sind von der Unvermeidlichkeit und Richtigkeit ihres Kampfes,
daß sie trotz aller Enttäuschungen und Mißerfolge immer wieder
den Kampf aufnehmen. Das macht ihre geschichtliche Größe aus.
Über den weiteren Werdegang Hanns-Erich Kaminskis ist nur wenig
bekannt. Der Herausgeber von Céline 1938, Les Nouvelles
Editions Excelsior, erwähnt einen Titel, der in Vorbereitung
war: Lassalle et la Comtesse d’Hatzfeldt; es scheint
jedoch, daß dieses Buch nicht mehr erschienen ist. Eine
Anschrift Kaminskis in Nevers – Centre des Travailleurs
Volontaires, Clos-St. Joseph – läßt vermuten, daß er, als
Deutscher, zu Beginn des 2. Weltkriegs von den französischen
Behörden verhaftet und in ein Internierungslager gebracht wurde.
1939 schloß er einen Text ab, der 1941 bei Imán in Buenos Aires
erschien: El nazismo como problema sexual. Im selben Jahr,
im Juni 1941, wurde er zusammen mit seinen Eltern und seinem
Bruder von den NS-Behörden ausgebürgert.
Es gibt aufgrund der Quellenlage drei Möglichkeiten, was den
Verbleib Kaminskis betrifft:
– Nach dem Biographischen Handbuch der deutschsprachigen
Emigration ist Kaminski ,,1940 verschollen“. Dies
könnte eventuell bedeuten, daß er den deutschen
Besatzungstruppen in Frankreich in die Hände gefallen und in ein
Vernichtungslager deportiert worden ist.
– Des weiteren gibt es Hinweise, daß Kaminski 1960 in
Frankreich gestorben ist (Auskunft von Editions Plasma; ein
Artikel in l’Umanita Nova, 10.4.1960). Dem stehen
jedoch andere Aussagen entgegen.
– Zuletzt bleibt noch die Möglichkeit, daß Kaminski 1941
nach Südamerika emigriert ist (vgl. W. Sternfeld/E. Tiedemann, Deutsche
Exil-Literatur 1933-1945, Heidelberg 1970, S. 253). Für
diese These könnte auch die Herausgabe seines als letztes
erschienenen Buches in Buenos Aires sprechen.
Bibliographie
Hanns-Erich Kaminski:
1921-1933: Artikel in folgenden deutschen Zeitungen und
Zeitschriften: Die Weltbühne, Die Volksstimme, Berliner
Tageblatt, Volkszeitung, Vossische Zeitung, Berliner Illustrierte
Zeitung, 8-Uhr-Abendblatt, BZ am Mittag, Welt am Montag.
1933-1939: Artikel in folgenden französischen Zeitungen und
Zeitschriften: Petit Niçois, Germinal, Journal des Vivants,
Mercure de France und in der Exil-Zeitschrift Das Blaue
Heft.
1921: Zur Theorie des Dumping (Diss., Heidelberg),
Manuskript beirn Alfred-Weber-Institut für Sozial- und
Staatswissenschaften, Universität Heidelberg (UX4).
1925: Fascismus in Italien. Grundlagen, Aufstieg,
Niedergang, Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin.
1937: Ceux de Barcelone, Denoël, Paris.
1938: Céline en Chemise brune ou Le Mal du Présent, Nouvelles
Editions Excelsior, Paris.
1938: Michel Bakounine. La Vie d’un Révolutionnaire, Aubier-Montaigne,
Paris.
1938: angekündigt als „in Vorbereitung“ befindlich,
jedoch nicht erschienen: Lassalle et la Comtesse
d’Hatzfeldt.
1941: El nazismo como problema sexual, Imán, Buenos
Aires.
1950: Quelli di Barcellona, Mondadori, Mailand (übersetzt
von Delfino Insolera).
1966: Quelli di Barcellona (Neuauflage), mit einer
Einleitung von Carlo Doglio.
o.J.: Bakunin (una vita avventurosa), IEIM, o.O., mit
einer Einleitung von Carlo Doglio.
1976: Els de Barcelona, Ediciones del Cotal, Barcelona
(übersetzt ins Katalanische von Francesc Parcerisas).
1976: Los de Barcelona, Ediciones del Cotal, Barcelona
(übersetzt ins Spanische von Carmen Sanz Barberá).
1977: Céline en Chemise brune ou Le Mal du Présent (Neuauflage),
Plasma, Paris.
Sabine Bétoulaud: geb. 1958, studierte Germanistik in Aix-en-Provence und Heidelberg, Magisterarbeit zur Frage der Einheitsfront des Proletariats und ihre Behandlung in der Weltbühne, Dissertation über die deutsche Emigration in Südfrankreich 1933-45, arbeitet als Lehrerin, lebt bei Aix-en-Provence. Ihr Text erschien zuerst 1986 in der 1. Auflage von Barcelona – Ein Tag und seine Folgen.
Eine neue Identität
Von Wolfgang Haug
In
der edition tranvía erschien 1986 Hanns-Erich Kaminskis Buch
über Revolution und Bürgerkrieg in Spanien: Barcelona –
Ein Tag und seine Folgen (Originalausgabe Ceux de
Barcelone, Paris 1937). Die französische Germanistin Sabine
Bétoulaud verfaßte für die deutsche Ausgabe eine biographische
Skizze über den Journalisten (u.a. Vossische Zeitung,
Berliner Tageblatt) und ehemaligen Redakteur der Weltbühne;
ihr Text endet mit dem Hinweis auf Kaminskis kritische
Annäherung an den Anarchismus sowie mit offenen Fragen über
sein weiteres Schicksal nach der Besetzung Frankreichs durch die
deutschen Truppen.
Sabine Bétoulaud schreibt, daß sich Kaminski vom September 1936
bis Januar 1937 in Katalonien aufhielt, sein Barcelona-Buch im
Anschluß daran auf französisch verfaßte und im Mai 1937 beim
Verlag Denoël in Paris veröffentlichte. Über die
Entstehungsbedingungen dieses Buches, das u.a. die Reise
beschreibt, die Kaminski mit der Anarchistin Emma Goldman und dem
Anarchosyndikalisten Arthur Lehning unternommen hatte, können
jetzt korrigierende Angaben nachgereicht werden, da sich ein
kurzer Briefwechsel Kaminskis und seiner Lebensgefährtin Anita
Karfunkel mit Augustin Souchy im FAI-Archiv (Film 79) des
Internationalen Instituts für Soziale Geschichte (IISG),
Amsterdam, gefunden hat.
Der erste Brief ist auf den 13.1.37 datiert und in Paris
abgeschickt; die beiden schreiben, daß es „schon
schrecklich lange her“ ist, „seit wir dort unten
waren“. Der Zeitraum der Kaminski-Reise erstreckte sich also
keinesfalls bis zum Januar 1937. Hanns-Erich Kaminski war auch
nicht allein in Barcelona und Katalonien, sondern zusammen mit
seiner Lebensgefährtin Anita Karfunkel (geb. Hertz), und –
was wichtiger ist – beide haben sowohl dieses wie auch die
darauf folgende Bakunin-Biographie gemeinsam und zunächst auf
deutsch verfaßt: „Gestern [also am 12.1.; Anm. W.H.] sind
wir endlich mit unserm Buch fertig geworden, wenigstens auf
deutsch. Jetzt müssen wir es gleich ins Französische
übersetzen.“
Für die Bakunin-Biographie gibt ein zweiter Brief an Augustin
Souchy vom 1.5.37 Auskunft: „Wir arbeiten an einem neuen
Buch, und zwar an einer Biographie über Bakunin, für die sich
unser französischer Verleger interessiert.“
Daß die Annäherung an den Anarchismus sehr groß war, belegen
die Mitarbeitsangebote, die Kaminski und Anita Karfunkel in
beiden Briefen erneuern: „Wir würden gern aktiv etwas für
die spanische Revolution tun. Aber das weißt Du ja. Schließlich
können wir Euch nicht nachlaufen und um einen Posten bitten. Wir
möchten Dir nur nochmals sagen, wie sehr wir bereit sind, alles
zu tun, was irgendwie dienlich sein könnte.“ (13.1.37) Und:
„Du weißt, daß wir zu dieser wie zu der andern Tätigkeit
immer bedingungslos zur Verfügung stehen. Bisher haben wir nur
leider den Eindruck gehabt, daß unsere Angebote keine große
Nachfrage fanden.“ (1.5.37) Ein Grund für das vorsichtige
Abwarten Souchys könnte gewesen sein, daß Kaminski und Anita
Karfunkel die konterrevolutionären Vorgänge in Spanien mit
Sorge verfolgten und die Politik der CNT nicht immer unbedingt
für richtig hielten, während Souchy zu jenen gehörte, die die
Politik der CNT ohne Vorbehalte mittrugen. „Außerdem ist
man hier viel pessimistischer. Unsere Zweifel beziehen sich
allerdings weniger auf die militärische Lage als auf Euer
Verhältnis zu den Kommunisten. Es ist schlimm, daß Ihr den
Hinauswurf der POUM zugelassen habt. Hoffentlich kommt es nicht
noch schlimmer!« (13.1.37) (Über die politische Einstellung
Kaminskis und Anita Karfunkels gibt auch ein offener Brief von
Hanns-Erich Auskunft, der 1937 in der Nr. 228 von Le Combat
Syndicaliste, der Zeitung der französischen
Anarchosyndikalisten, erschien.)
Der Briefwechsel, soweit er sich erhalten hat, endet mit einem
Brief Souchys an Kaminski und Anita Karfunkel vom 19.10.37, aus
dem deutlich wird, daß Souchy, nachdem den Anarchisten die
„Polizeimacht“ entglitten sei, in Spanien nicht
„mehr nur als Vertreter der CNT-FAI, sondern – wie
Kaminski und Anita Karfunkel in Frankreich – als Vertreter
der Liga für Menschenrechte agierte. Souchy: „Es ist sicher
gut, wenn Ihr unterrichtet seid, falls die Sache in einer
Versammlung der Liga vorgebracht werden sollte.“
1938 erschienen in Paris noch zwei weitere Bücher: Céline en
Chemise brune, ou Le mal du Présent, eine polemische Replik
auf Célines antisemitisches Pamphlet Bagatelles pour un
massacre (dt.: Die Judenverschwörung in Frankreich)
und mithin ein Buch gegen die Nazis, sowie die Bakunin-Biographie
Michel Bakounine. La Vie d’un Révolutionnaire, die
im Dezember 1938 im Combat Syndicaliste besprochen wurde.
Über das weitere Schicksal der beiden nach 1938 war bislang noch
nichts Definitives bekannt. Für den aus einer jüdischen
Kaufmannsfamilie stammenden Hanns-Erich Kaminski vermutet Sabine
Bétoulaud in ihrer biographischen Skizze eine Internierung im
Jahre 1939 und gab drei mögliche Versionen über das Danach
(...) [s.o.].
Eine vierte Möglichkeit schien aufzutauchen, als in einem 1976
veröffentlichten Artikel des amerikanischen Historikers Robert
W. Kern im Journal of Modern History über Emma Goldmans
Engagement im Spanischen Bürgerkrieg Goldman-Briefe an eine
Mollie Kaminski von 1937 zitiert wurden und in einer Anmerkung
zum Goldman-Begleiter bei der Katalonien-Tour „H.E.
Alpérine Kaminski (1885-1951)“ plötzlich ein Todesdatum
auftauchte, ergänzt um die Mitteilung, daß er im Pariser Exil
für die anarchosyndikalistische Internationale, die IAA, tätig
geworden sei. Diese Spur erwies sich jedoch als unergiebig;
Hanns-Erich Kaminski wurde 1899 (am 29.11.) in Labiau im
damaligen Ostpreußen geboren. Robert W. Kern hat anscheinend die
Namen verschiedener Personen vermischt. In Paris arbeitete Mollie
Steimer, eine Freundin Emma Goldmans, für die IAA. Mit ihr waren
die Kaminskis eng befreundet, so daß anzunehmen ist, daß über
sie der Kontakt zu Emma Goldman und damit die gemeinsame Reise
nach Katalonien zustande gekommen war. Nach Auskunft der
Emma-Goldman-Forscherin Candace Falk benutzte Mollie Steimer
bisweilen auch das Pseudonym Mollie Alperine; zudem teilte
Candace Falk mit, daß die Briefe, die Kern zitierte, inhaltlich
eindeutig an Mollie Steimer gerichtet sind und von den Kaminskis
nicht die Rede ist. Kerns Verwechslung kann dadurch zustande
gekommen sein, daß Emma Goldman zwischen Januar 1937 und März
1938 kontinuierlich mit Kaminski und Anita Karfunkel in Paris
korrespondierte.
Ab September 1939 wurden in drei Wellen deutsche und
österreichische Emigranten in Frankreich interniert. Am Tag vor
der Mobilmachung traf es politisch bekannte Personen, vor allem
Kommunisten und Anarchisten (sowie sich in Frankreich aufhaltende
deutsche Nazis) – und zwar unterschiedslos Männer und
Frauen; dieser Personenkreis wurde in die Polizeipräfektur
gebracht und anschließend in Straflager eingewiesen, die unter
Polizeiüberwachung standen. Ein Entkommen aus diesen Lagern
gelang nur über Beziehungen und mittels einer offiziellen
Genehmigung des Innenministeriums. Bei einem zweiten
Personenkreis handelte es sich zunächst nur um Männer unter 50
Jahren. Erst beim Anmarsch der Deutschen auf Paris wurden ab Mai
1940 auch die Frauen (die nach Gurs gebracht wurden) sowie die
Männer über 50 Jahren interniert. ‚Frei’ blieben
lediglich Mütter mit Kindern; doch bedeutete dieses
‚Freisein’ angesichts der deutschen Truppen eher, auf
sich allein angewiesen zu sein, um in den Süden Frankreichs zu
kommen. Die zweite und dritte Internierungswelle erfolgte nicht
durch Hausdurchsuchungen und anschließende Verhaftungen, sondern
durch öffentliche Anschläge und Aufrufe, wonach sich alle
Deutschen zu melden hätten. Dieser Personenkreis wurde zunächst
in Sportstadien um Paris und später in die Internierungslager in
Zentral- und Südfrankreich gebracht.
Als die deutschen Truppen nach Zentral- und Südfrankreich
vorrückten, war eine Flucht aus diesen Lagern zumeist möglich.
Mitte Juni 1940 war Paris bereits von deutschen Truppen besetzt.
Anschließend gerieten die im Süden des Landes Internierten in
die Gefahr, daß die Gestapo die Lager übernahm und die
Emigranten unter den Internierten in deutsche KZs deportierte. An
diesen Eckdaten orientiert sich deshalb die Einordnung von drei
späteren Hinweisen auf das Schicksal von Hanns-Erich Kaminski
und Anita Karfunkel.
Lisa Fittko beschreibt in Mein Weg über die Pyrenäen
(Hanser Verlag, München 1985) präzise die Situation für die
Frauen im Internierungslager von Gurs. Sie erzählt von der
Flucht – unmittelbar vor der Übergabe des Lagers an die
Gestapo – von ungefähr 60 Frauen, darunter Hannah Arendt,
Anja Pfemfert-Ramm und auch Anita Karfunkel, die im Buch von Lisa
Fittko „Bolle“ genannt wird. Lisa Fittko bestätigt die
Vermutung Sabine Bétoulauds, daß der fast vierzigjährige
Kaminski bereits 1939 interniert worden sein könnte, Anita
Karfunkel teilte dieses Schicksal ab dem Mai 1940. Die Flucht aus
dem Fraueninternierungslager fand Ende Juni statt. Um weniger
aufzufallen, trennten sich die Frauen und versuchten in Zweier-
oder Dreier-Gruppen weiterzukommen. In Pontacq, so erzählt Lisa
Fittko weiter, trafen acht Frauen wieder aufeinander, darunter
auch Anja Pfemfert-Ramm und Anita Karfunkel; dort warteten sie ab
und versuchten sich Klarheit über die Situation und ihr weiteres
Verhalten zu schaffen. Einige Tage später, also vermutlich
Anfang Juli 1940, traf Hanns-Erich Kaminski in Pontacq ein und
erzählte von seiner Flucht aus einem Internierungslager bei
Tours (Fittko, S. 78). Allem Anschein nach wurde er also mit der
zweiten Welle interniert. Noch im Juli trennten sich die acht
Frauen in der Absicht, auf getrennten Wegen den unbesetzten Teil
Frankreichs zu erreichen, um über Marseille Europa zu verlassen.
Im August 1940 hielten sich Kaminski und Anita Karfunkel,
ausgestattet mit falschen französischen Papieren, in Avignon
auf, auch Marseille hatten sie erreicht: Lisa Fittko sah beide in
der fraglichen Zeit in Marseille zum letzten Mal (Brief vom
2.7.89 an Walter Frey/Tranvía). Eine Ausreise aus Marseille
scheint jedoch nicht möglich gewesen zu sein. Im
Rudolf-Rocker-Archiv im IISG Amsterdam fand sich ein auf englisch
geschriebener Brief Anita Karfunkels an den im New Yorker Exil
lebenden deutschen Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker mit einer
Adresse in Avignon und datiert auf den 5.8.1940. Sie erklärte,
Frankreich auf dem schnellsten Wege verlassen zu müssen, weil
„die Nazis in unserem Haus in Paris eine 5-stündige
Durchsuchung“ veranstaltet und „alle unsere Manuskripte
und Papiere und mein kleines Buch mit allen Adressen mitgenommen
haben“. Anita schrieb dem ihr persönlich nicht bekannten
Rocker – dessen Adresse sie aber durch die häufigen
Kontakte Mollie Steimers zu Rocker auswendig wußte – in der
Hoffnung, von ihm Hilfe bei der gewünschten Einreise in die USA
zu erhalten: „Wir müssen Frankreich so schnell wie möglich
verlassen und das einzige Land, in das wir gehen können –
indem wir Spanien und Portugal passieren –, sind die USA.
Der Amerikanische Konsul in Marseille hat die Anweisung aus
Washington bekommen, Besuchervisen an eine bestimmte Anzahl von
Personen auszustellen, die speziell in Gefahr sind; ohne diese
müssen sie die normalen Bedingungen erfüllen. Aber wir sind
nicht auf dieser Liste, die, soweit ich weiß, von der Federation
of Labor erstellt worden ist. So bitte ich dich
kameradschaftlich, tu alles, was möglich und unmöglich ist, um
zu erreichen, daß das State Department unsere Namen Hanns-Erich
Kaminski und Anita Karfunkel auf diese Liste setzt.“
Sollte dies für Rocker nicht zu erreichen sein, bittet sie ihn
um „zwei gute Affidavits für Herrn Narcisse Primat Lenoir
und seine Frau Anita Lenoir, geb. Picard, wohnhaft in Avignon,
und sende diese Affidavits an Herrn Lenoir in Lissabon,
postlagernd. Herr und Frau Lenoir sind Franzosen und hoffen es
wenigstens bis Portugal zu schaffen“. Im Anschluß daran
bittet sie 100 Dollar, die für die Reise nach Portugal nötig
waren, an eine Adresse in Avignon (19, rue des Trois-Faucons) zu
schicken.
Bereits einen Monat später hatten es die beiden bis Lissabon
geschafft! Ein Brief Hanns-Erich Kaminskis vom 1.9.1940 (IISG
Amsterdam, Archiv Rocker) (...) verdeutlicht, daß sein Name
anscheinend auf der Liste der gefährdeten Personen stand und
somit seine Einreise in die USA gesichert schien. Da aus ihm
gleichzeitig hervorgeht, daß sie vermutlich aufgrund ihrer
schnellen Abreise aus Avignon noch keine Antwort von Rocker
erhalten hatten und sich der Briefwechsel auch nicht fortsetzt,
versiegt diese Quelle im „Grande Hotel Portugal“ in
Lissabon.
Obwohl Lisa Fittko Kaminski und Anita Karfunkel in Marseille zum
letzten Mal gesehen hatte, konnte sie den entscheidenden Hinweis
für die Aufklärung des weiteren Schicksals beider geben. Sie
wies darauf hin, daß die beiden mit Babette Gross befreundet
gewesen waren. Die heute 91jährige Babette Gross, Biographin und
Lebensgefährtin Willi Münzenbergs, konnte tatsächlich über
das weitere Schicksal von Kaminski und Anita Karfunkel Auskunft
geben (Gespräche mit W.H. am 19.9.89, 23.9.89 und 6.10.89).
Babette Gross lernte Anita Karfunkel zu Beginn der Internierung
im Mai 1940 in Paris kennen, sie wurde ebenfalls in Gurs
interniert und sie befand sich in der Gruppe der Frauen, die aus
dem Lager nach Pontacq fliehen konnten. Babette Gross erinnert
sich an die entscheidende Situation: Als die Deutschen bei
Bordeaux standen, hatte eine Gruppe politischer Frauen den
Lagerkommandanten ‚bequatscht’, daß er zumindest
diejenigen von ihnen gehen ließ, von denen zu erwarten war, daß
ihre Namen so bekannt waren, daß sie bereits auf Gestapo-Listen
standen. Der Kommandant war damit einverstanden, daß die Gruppe
eine Liste erstellte, auf der diese Frauen stehen sollten. (Nicht
alle in Frage kommenden Frauen ließen sich in diese Liste
eintragen, da sie befürchteten, daß ein solches Papier der
Gestapo lediglich die Arbeit erleichtern würde.) Unter
denjenigen, die sich, auf diese Weise absetzen konnten, befanden
sich neben den bereits Erwähnten auch Babette Gross sowie die
Frau und die Tochter des KPD-Reichstagsabgeordneten Peter
Maslowski. Der Kommandant hatte noch Lkws zur Verfügung
gestellt, die sie bis Pontacq brachten, danach sollten sie selbst
weitersehen. Im Dorf gaben sich alle als belgische Flüchtlinge
aus. Nachdem sie sich getrennt hatten, um auf verschiedenen Wegen
in die freie (d.h. noch nicht von den Deutschen besetzte) Zone zu
gelangen, traf Babette Gross Anita Karfunkel zusammen mit
Hanns-Erich Kaminski in Lissabon wieder, wo sie im selben Hotel
wohnten. Ebenfalls in diesem Hotel warteten die zur
Linksopposition der KPD zählenden und späteren Mitglieder des
Lenin-Bundes Ruth Fischer und Arkadij Maslow auf eine
Möglichkeit, Europa zu verlassen (letztere landeten in Kuba, wo
Maslow bereits 1941 starb). Babette Gross erhielt wie die
Pfemferts über den Schwiegersohn Otto Rühles, Fritz Bach, ein
Visum für Mexiko.
Hanns-Erich Kaminski und Anita Karfunkel gelang ihre
beabsichtigte Einreise in die USA nicht. Stattdessen erhielten
sie auf ihre französischen Namen Lenoir ein Visum für
Argentinien! Um ihre Existenz in Argentinien nicht unnötig zu
gefährden, lebten sie ab diesem Zeitpunkt als Ehepaar Lenoir
weiter. Die neuen Papiere waren absolut sicher, weil Kaminski in
einem kleinen Dorf in der freien Zone von einem kommunistischen
Bürgermeister die echten Papiere des bei Sedan gefallenen
Franzosen Narcisse Primat Lenoir erhalten hatte. Diese neue
französische Identität erlaubte ihnen vermutlich eine völlig
legale Reise von Frankreich über Spanien nach Portugal, was ihre
verhältnismäßig rasche Ankunft in Lissabon erklären würde.
Das 1941 in Buenos Aires erschienene Buch war somit der
verläßlichste Fingerzeig auf das weitere Schicksal der
Kaminskis, den Sabine Bétoulaud gegeben hatte. Die Lenoirs
lebten tatsächlich in Buenos Aires: Hanns-Erich, der sich in den
Jahren zwischen 1922 und 1926 häufig in Italien und Spanien
aufgehalten hatte, wurde Italienisch- und Spanisch-Lehrer an
einem Gymnasium; Anita schrieb Artikel für argentinische
Frauenzeitschriften. Auch Hanns-Erich schrieb nach Auskunft von
Babette Gross zumindest noch ein weiteres Buch: Eingeladen von
der bolivianischen Regierung verfaßte er nach einer Rundreise
durchs Land unter dem Namen Lenoir ein Buch über die
bolivianische „Revolution“ von 1952/53, bei der die
„Zinnkönige“ von einer linken Regierung enteignet
wurden und eine Landreform durchgeführt wurde.
Babette Gross besuchte Ende der fünfziger Jahre die beiden in
Buenos Aires, und weil es ihnen aufgrund der damaligen
wirtschaftlichen Situation Argentiniens nicht besonders gut ging,
besorgte sie ihnen aus der Bundesrepublik über den „Fonds
für Sonderfälle“ eine kleine Wiedergutmachungsrente, da
die Lenoirs von sich aus bis dahin nichts beantragt hatten.
Wolfgang Haug ist Verleger (Trotzdem-Verlag) und Mitherausgeber der Zeitschrift Schwarzer Faden. Sein Text erschien zuerst in Tranvía – Revue der Iberischen Halbinsel Nr. 15 (Dezember 1989).
Weitere
zwischenzeitlich bekannt gewordene Informationen über
Hanns-Erich Kaminski und Anita Karfunkel enthält Arthur Lehnings
2007 in der edition tranvía erschienenes Spanisches Tagebuch.
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